Tag 9 Barth bis Stralsund – Windschatten

Tag 9 Barth bis Stralsund – Windschatten

8. März 2021 0 Von Manuela

Scheinbar setzt bei Übermüdung so eine Art Fernsteuerung ein. Wir packen unsere Sachen zusammen und steigen auf`s Rad in Richtung Stralsund. Aller Voraussicht nach werden wir dort keine Unterkunft finden aber wir fahren trotzdem hin. Ferngesteuert eben.

Die Müdigkeit ist gut mit der Schwerkraft befreundet. Beide hängen jetzt zusammen an meinen Beinen und erschweren jede Umdrehung der Pedale. Schon nach kurzer Zeit reicht es mir. Ich will eine Pause. Wir haben Glück denn da ist eine Imbissbude.

Der Mann hinterm Tresen strahlt mich an:
„Was für ein Wetter!“ schwärmt er. „Kommt ihr vom Kiten?“
Häh? Kiten? Nö.
„Wir kommen vom Rad,“ sage ich.
„Der Wind ist genial,“ sagt er. „Ganz selten kommt der hier von Osten“
Wieder strahlt er mich an. Fast freue ich mich mit ihm. Aber dann dämmert mir langsam, was Ostwind für uns bedeutet: GEGENWIND!

Also bestelle ich das zweite Frühstück des Tages. Mittlerweile ist es 10 Uhr. Am Tisch setzt sich ein Radlerpaar zu uns. Sie schwärmen davon, wie schnell sie unterwegs sind. Sie fahren natürlich in die andere Richtung, also mit dem Wind.

Es gibt so Menschen, die sprechen einfach so drauflos. Schon nach kurzer Zeit wissen wir mehr über diese Menschen als über unsere eigenen Kinder. Dabei ist es vollkommen egal wie wir uns verhalten. Ob wir nachfragen oder versuchen abweisend zu gucken. Das hat keine Relevanz. Diese Menschen wollen sprechen und sie sprechen.

Normalerweise versuche ich in solchen Situationen den Wortschwall durch irgendeine überraschende Aussage zu manipulieren. Heute bin ich zu müde, Matthias wohl auch. Wir lassen sie reden. Irgendwann haben sie genug und lassen von uns ab. Puh endlich Ruhe. Nur noch der Wind rappelt am Vordach der Imbissbude. Er lauert schon auf uns.

Sperrig sieht das Ding aus, das eine junge Frau gerade durch viel Gestrüpp Richtung Wasser schleppt. Sie ist auf dem Weg in den Kitesurferinnenhimmel. Dort wimmelt es schon von anderen Kitesurfenden. Wir schauen ihnen eine Zeit lang zu. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig als wieder auf die Räder zu steigen.

Gegenwind

Es gibt ihn in unterschiedlichen Ausführungen. Manchmal ist er nur ein flüchtiger Gast, der schnell wieder verschwindet. Manchmal ist er nervig aber sanft wie ein leichter Nieselregen und heute ist er hartnäckig, ätzend und unendlich. Der Gegenwind!

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Manchmal habe ich Sätze im Kopf, die ich endlos wiederhole. Jetzt gerade ist es dieser Satz. Ich weiß nicht wer ihn mal gesagt hat. Vielleicht ist der Satz von einem Philosophen oder sogar aus der Bibel? Für mich ist es ein banaler Satz. Er soll mich einfach daran erinnern, dass ich diese Radtour gewollt habe.

Dennoch ist es hart und ein Himmelreich nicht in Sicht. Hier ist nur der pure und reine Wille. Ach ja und zum Glück ist hier auch Windschatten. Mein Vorderrad klebt am Schutzblech von Matthias. Ich lasse mich nicht abhängen, nur so kann ich überleben.

Seit fast zwei Stunden fahren wir schon am Bodden entlang.
Rechts von uns Grasflächen und weite Felder, links das Wasser und vor uns der Weg. Nicht zu sehen aber eindeutig anwesend, der Wind. Das hier kein Spaß, aber da ist Lebendigkeit und Reibung an den eigenen Grenzen.

Endlich eine Bank. Da muss nix abgesprochen werden, wir halten an und sinken nieder. Ich lege mich auf den Rücken, die Füße auf die Rückenlehne und starre in den Himmel. Der Wind hat auch die Wolken im Griff. Sie rasen alle in eine Richtung. Wir könnten ja auch einfach umdrehen, denke ich kurz. Aber da waren wir ja schon.

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich!

Stralsund

Ich weiß nicht genau warum, aber wir erreichen an diesem Tag Stralsund. Unsere erste Anlaufstelle ist ein Supermarkt. Wir brauchen Wasser, Wein und Bier. Es ist mittlerweile 16.30 Uhr und wir sollten beginnen uns über die kommende Nacht Gedanken zu machen.

In der Innenstadt ist die Hölle los. Wallensteintage! Norddeutschland größtes historisches Volksfest. Herrgott nochmal! Was soll das? Wer ist überhaupt Wallenstein und was gibt es da zu feiern? Später lese ich im Internet, dass Wallenstein mit Hilfe der Schweden 1628 aus Stralsund vertrieben wurde. Na dann.

Wir schieben unsere Räder durch das Getümmel. Fahren ist unmöglich. Etwas außerhalb der Innenstadt ist ein Restaurant. Hier waren wir Anfang des Jahres schon mal und ich habe irgendwie das Gefühl, hier wird uns geholfen.

„Wir brauchen unbedingt ein Zimmer,“ sage ich als der Kellner uns nach unseren Wünschen fragt.
„Das wird schwer, es sind Wallensteintage,“ sagt er.
Ach was, denke ich.
„Haben Sie eine Idee, wo wir fragen können? Wo würden Sie fragen?“ Ich bleibe dran.
„Warten Sie, ich schreibe Ihnen ein paar Nummern auf.“

Schon nach kurzer Zeit kommt er mit einem Zettel zurück, auf dem vier bis fünf Telefonnummern stehen.
Matthias wählt die erste Nummer. Und JA! Sie haben ein Zimmer. Wahrscheinlich das letzte in ganz Stralsund. Das Bett ist nur 1,20 Meter breit sagen sie. Ob wir das Zimmer dennoch wollen? 1,20 Meter! Hallo?!
Eine Parkbank ist 42 cm tief. Wir lieben dieses Zimmer jetzt schon.

Der Kellner bringt Pizza und Rotwein. Endlich ist es da, das Himmelreich!

Das Hotel liegt direkt am Alten Marktplatz. Für die Fahrräder gibt es einen abgeschlossenen Raum im Nebengebäude und der Preis ist mit 80,- € inklusive Frühstück mehr als moderat. Der Verzicht auf eine Unterkunft macht glücklich, sobald der Verzicht vorbei ist. Ich kann das nur empfehlen.

Paare am Weg

Am nächsten Morgen lasse ich mir Zeit im Bad. Ich dusche lang, trockne jeden Zentimeter akribisch mit dem Handtuch ab, creme mich sorgfältig ein.
„Bist du bald fertig“ fragt Matthias.
So ist das also auf der anderen Seite. Natürlich habe ich immer mal wieder versucht, besonders langsam zu sein, nur um nicht auf Matthias warten zu müssen. Aber diesmal ist es anders. Jetzt bin ich einfach so langsam, nur für mich. Ich genieß die Zeit.

Er klopft an die Tür.

„Du kannst schon runter gehen,“ sage ich und er geht. So einfach ist das. Ich werde mir in Zukunft mehr Zeit nehmen, für alles! Einfach, weil das gut tut. Was für eine Erkenntnis. DANKE Matthias.

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Tag 9 Barth bis Stralsund

  • 42,5 Kilometer 
  • 26 Grad
  • Ständig Gegenwind
  • 1 Himmelreich
  • 1 Erkenntnis