Tag 10 Heilbad Heiligenstadt bis Milah – Gefälle und Stürze
Der Fahrradhändler hat uns genau beschrieben, wie wir nach Eschwege kommen. Dort wollen wir heute Mittagessen. Aber vorher fahren wir noch über den Mittelpunkt Deutschlands in Flinsberg. Die neuen Lenkergriffe und Handschuhe fühlen sich gut an. Es ist kühl aber uns wird ja gleich warm werden, zumindest mir. Am Anfang geht es wohl bergauf aber dann bis Eschwege nur noch bergab. Das erste Hinweisschild zeigt einen Radweg neben der Straße an. Den sollten wir aber nicht nehmen. Ich habe noch deutlich die Worte im Ohr, dass es hier einen neuen Bahnradweg gibt, der super zu fahren sei. Den wollen wir finden. Google Maps weiß nichts von dem Weg, Apple Maps auch nicht. Wir fragen eine ältere Dame, die gerade im Garten arbeitet. „Dieser Weg ist nicht gut geeignet zum Radfahren“ sagt sie. „Es geht viel zu steil bergauf“. „Wie kommen wir denn sonst nach Eschwege über Flinsberg“ frage ich. Sie weiß es nicht und kennt auch den Bahnradweg nicht.
Plötzlich kommt ein Aufschrei von Astrid, ihre Wasserflasche hat sich in der Lenkertasche geöffnet. Jetzt schwimmt dort das Mittagessen als Brotsuppe und muss erstmal entsorgt werden. Solange plaudere ich mit der wirklich sympathischen Dame. Sie ist begeistert von unserer Idee, bewundert meine Zöpfe und erzählt mir davon, dass sie noch vor kurzem schwerbehindert war. Heute fühlt sie sich fit, sie hat sich herausgekämpft aus der Krankheit. Sowas finde ich viel bewundernswerter als unsere „kleine“ Radtour.
Bevor es weiter geht, fragt sie noch, ob wir den keine Angst haben und ob wir eine Waffe dabei haben. Wir müssen lachen. Sie wünscht sich ebenfalls eine Karte von uns. Wir versprechen es und fahren erstmal weiter den Berg hinauf.
Es ist dramatisch anstrengend, die Frau hatte recht. Das ist zu steil zum Radfahren, die asphaltierte Straße hört auch noch auf. Schon nach 200 Metern halten wir wieder an. Der Mann, der gerade mit seinem Hund spazieren gehen will, beschreibt uns den Weg zum neuen Bahnradweg. Auch er ist der Meinung, dass wir hier nicht weiter fahren sollten.
Dreimal fragen wir noch aber dann sind wir auch schon da auf dem Bahnradweg und alles ist gut. Die ganze Fragerei hat sich gelohnt!
Bahnroute
Wir sind begeistert von dieser Bahnroute. Sie ist asphaltiert und nicht so steil wie die anderen Wege rechts und links durch den Wald. Es ist angenehm kühl, die frische Luft ist eine wahre Freude.
Zwei Sätze beflügeln mich noch zusätzlich. Der Satz von dem Fahrradhändler, dass es nach ein paar Kilometern bergauf bis Eschwege nur noch bergab gehe und der Satz von dem Mann mit dem Hund, der sagte, wer es mit dem Fahrrad durchs Eichsfeld schafft, der schafft es überall. Bayern kann kommen!
Der Mittelpunkt Deutschlands
Aber noch sind wir in Thüringen. Der Mittelpunkt Deutschlands wartet auf uns. Innerlich rechne ich die Tage hoch, die wir für den Rest der Strecke noch haben. Erstmals beschleicht mich der Gedanke, wir können es wirklich schaffen. Und das sogar trotz des dringend nötigen aber ungeplanten Pausentages. Astrid fährt beschwingt neben mir. Wir sind gleich über den Berg im wahrsten Sinne des Wortes!
Es geht bergab
22 % Gefälle informiert uns ein Schild. Wir zögern kurz, denn wir sind unerfahren im Bergfahren und wissen nicht, ob unsere Bremsen gut genug sind. Doch dann lassen wir einfach rollen! Das ist unglaublich großartig.
Früher sind Astrid und ich gerne Achterbahn gefahren. Wir haben uns sogar einmal einen kleinen Halt auf dem Parkplatz vor dem Heidepark gegönnt, nur um die Menschen im Colossos schreien zu hören, weil allein das Geräusch schon toll ist. Jetzt ist es irgendwie noch schöner. Wir schreien zwar nicht laut aber diese Achterbahn ist selbstgemacht.
Wenn das Hochfahren nicht so anstrengend wäre, wäre es wahrscheinlich nur halb so schön. Andererseits ist es für Astrid nicht so anstrengend und sie genießt die Schussfahrt genauso wie ich. Vielleicht sollte ich doch mal über ein E-Bike nachdenken? Nein, kommt die sofortige Antwort von innen heraus, noch nicht!
Eschwege die Fachwerkstadt
Immer noch grinsend kommen wir in Eschwege an. Statt von schönen Fachwerkhäusern werden wir zunächst von einem Schlachtfeld begrüßt. Das Open Flair Festival 2018 ist vorbei und wir sehen das, was davon übrig bleibt. Fleißige Menschen räumen bereits auf, aber die Flächen vor der Stadt sehen aus wie eine riesengroße Müllhalde. Von „normalem“ Papier und Plastikmüll über demolierte Zelte bis hin zu ganzen Sofalandschaften und Kühlschränken liegt das Zeug hier rum so weit das Auge reicht, mehrere Fußballfelder weit.
Mal angenommen jeder fühlte sich für alles, was er irgendwo hinbringt verantwortlich…. Ein Gedanke, den wohl schon unsere Eltern hatten. Nützt ja nix, es wird ja auch schon wieder alles aufgeräumt. Sieht aber wirklich schlimm aus.
Klar ist Eschwege auch schön. Die Innenstadt ist gemütlich und lebendig, es gibt zahlreiche Cafés und eine schöne Fußgängerzone. Fachwerkhäuser natürlich auch. Hier essen wir zu Mittag. Es gibt Gemüsepfanne mit Kartoffeln, etwas das ich jeden Tag essen könnte.
Für Heiterkeit sorge ich dann noch mit meinem Nachtisch. Ich bestelle eine kleine Apfeltarte. Das klingt erstmal harmlos, ist es aber nicht. Die Kellnerin bringt mir eine XXXL Tarte, die so groß ist wie unsere Vorderräder. Wirklich, wir haben sie verglichen! Selbst vom Nebentisch kommen bewundernde Kommentare. Astrid kann gar nicht aufhören zu lachen. Ich esse sie schnell auf, damit Ruhe ist!
Verliebt in den Werraradweg
Weiter geht es und wir verlieben uns in den Werraradweg. Er ist bezaubernd, idyllisch und einfach nur wunderschön. Wir fahren vorbei an Schwänen auf einem kleinen See, neben uns die Werra und weit genug entfernt sanfte Hügel, denn hier am Fluß ist es flach und leicht zu fahren. Nur gelegentliches Rülpsen ausgelöst durch die Apfeltarte stört den Genuss. Wir sind wirklich verzaubert und können uns gar nicht oft genug gegenseitig beteuern, wie schön es hier ist. Noch wissen wir nicht zu welch blödsinniger Entscheidung diese Verliebtheit führen wird.
Das graue Schloss
Ein bisschen steckt mir die Angst vor den Bergen und die Erschöpfung von der Fahrt bis Heiligenstadt noch in den Knochen. Wir entscheiden uns bereits nach etwas über 70 Kilometern, in Milah eine Unterkunft zu suchen. Ich will einfach nicht wieder total erledigt ins Bett fallen und den nächsten Pausentag herbeisehnen, den wir uns jetzt definitiv nicht mehr leisten können. Ich bin immer noch unsicher, ob wir die Tour wirklich bis zum Ende schaffen. Aber wenn ich ständig auf den letzten körperlichen Reserven fahre, wird das ganz bestimmt nichts.
Wir finden ein Zimmer im grauen Schloss. Ein altes Gemäuer, das die DDR irgendwie überstanden hat, vereinzelte Scheusslichkeiten erinnern noch an die Bausünden dieser Zeit.
Stürze aller Art
Erst vor ein paar Tagen ist eine riesige Mauer des hiesigen Wasserwerks in die Werra gestürzt. Der Fluß führt an dieser Stelle zur Zeit deshalb kaum Wasser, viele Fische verenden. Wir hatten uns schon gewundert und haben jetzt diese unglaubliche Erklärung dafür erhalten.
Aber es folgen noch weitere Stürze an diesem Abend.
Ein Ritual für die nächsten Abende wird in Milah etabliert. Immer, wenn wir im Zielort ankommen, geht Astrid in den nächsten Supermarkt und kauft sich dort Wasser für den folgenden Tag. Sie mag kein Leitungswasser und außerdem fehlt ihr – im Gegensatz zu mir – noch ein bisschen Bewegung nach den jetzt kürzeren Touren! Eigentlich ist das eine Frechheit aber ich beruhige mich damit, dass ich ja alles mit eigener Kraft erfahren habe.
Die Zeit, die Astrid zum Einkaufen braucht, nutze ich, um die Karten zu studieren. Ich liebe es nochmal nachzugucken, wo wir genau lang gefahren sind und zu planen, wie es morgen weiter geht. Diesen Ablauf behalten wir bis zum Schluss bei.
Als Astrid vom Einkaufen zurück kommt, will sie nur schnell ihren Tacho aus dem Zimmer holen, um die Daten auszulesen. Sie entscheidet sich nach kurzem Zweifel für die Variante „in Socken auf alter gebohnerter Holztreppe“.
Ich sitze draußen über die Karten gebeugt und höre lautes Krachen aus dem Schloss. Das hat sicher nichts mit uns zu tun, denke ich, bis Astrid zurück kommt. Jetzt erfahre ich, dass sie den Krach verursacht hat indem sie zunächst ausgerutscht ist, dann den Tacho hat fallen lassen, der polternd die letzten Stufen hinunter fiel und schließlich selbst hinterher gestürzt sei. Zum Glück ist nichts gebrochen und auch der Tacho funktioniert noch.
Um das Ganze noch zu topen, werfe ich auch noch ein Glas zu Boden, das zersplittert in alle Einzelteile und es gibt einen Schnitt am kleinen Zeh. Scheiße!
Und so geht ein schöner Tag mit viel Radau zu Ende.
Paare am Wegesrand
Während ich da saß und auf Astrid wartete, hörte ich am Nebentisch einem jungen Mann zu, der ein älteres Paar ausfragte. Der junge Mann war sehr neugierig und alle sprachen sehr laut. Ich konnte einfach nicht anders als zuzuhören.
Es ging um die Zeit der ehemaligen DDR. Der junge Mann war ca. 20 – 25 Jahre alt und wollte von dem älteren Paar genauer wissen, wie es damals war. Es antwortete nur der Mann, die Frau war stille Zuhörerin, ab und zu kam ein zustimmendes Nicken von ihr.
Er erzählte, dass es ihnen heute finanziell viel besser ginge. Auch waren sie schon überall auf der Welt. Sie hatten die Reisefreiheit wahrlich ausgelebt. Aber nach beinahe 30 Jahren deutscher Wiedervereinigung fühle er sich immer noch nicht angekommen in der BRD. Die Sehnsucht nach einer Heimat, die es nie mehr geben würde sei nach wie vor groß. Da war keine Wut, auch keine Anklage gegen irgendwen oder irgendwas, nur Trauer. Nach einem Moment der Stille schüttelte er sich kurz, „na ja“ sagte er, „es wird schon weiter gehen“.
Was für ein Paar, die BRD und die DDR, denke ich.
Zahlen Daten Fakten
10. Tag von Heilbad Heiligenstadt nach Milah
- 14 – 23 Grad
- 77,34 Kilometer
- max Geschwindigkeit 43,13 Kmh – JUHU
- 440 Höhenmeter
- 3 Stürze
Liebe Manuela, wie toll Deine Reiseberichte sind! Vielen Dank dafür! Die Sehnsucht nach der Heimat, die es nie wieder geben wird ist ein kollektives Trauma, das sich durch die ganze ehemalige DDR zieht. Dass Du diese kleine Geschichte erzählst, trägt dazu bei, dass das Trauma gesehen wird, und wir ein Bewußtsein dafür bekommen. Ich – und das Mädchen, das ich war, als die Mauer fiel – wir drücken Dich dafür ganz doll. Danke!
DANKE liebe Peggy. Ja das sehe ich auch immer wieder und ich freue mich sehr über deine Rückmeldung. Herzliche Grüße – Manuela