Tag 8 Rostock bis Barth – Nachtfahrt –

Tag 8 Rostock bis Barth – Nachtfahrt –

6. März 2021 0 Von Manuela

Nicht nur aller guten Dinge sind drei, sondern auch die Strecke von Rostock bis Warnemünde ist drei, dabei ist die wirklich nicht gut. Immerhin sind wir gut ausgeruht und alle Sachen frisch gewaschen. So fahren wir entspannt bei morgendlich kühlen Temperaturen zum dritten Mal an der öden Straße entlang. In Gedanken sind wir nicht hier, sondern in der neuen Wohnung und aufgeregt über die Aussicht, nachts Rad zu fahren.

Ich bin schon viel Rad gefahren in meinem Leben. Erst im letzten Jahr mit meiner geliebten Schwägerin einmal quer durch Deutschland von Sylt bis ins Allgäu. Jahrelang bin ich täglich mit dem Rad zur Arbeit gefahren, so wie schon mein Vater vor mir und mein Bruder heute noch. Es macht mir nichts aus durch den Großstadtdschungel Berlins zu radeln.

Aber noch nie bin ich eine ganze Nacht durch unbekanntes Terrain gefahren. Ich freue mich darauf, bin mir aber nicht ganz sicher, ob das eventuell bescheuert ist. Vielleicht gibt es ja einen Grund, dass ich das noch nicht gemacht habe und dass ich auch sonst niemanden kenne, der oder die nachts Radtouren macht?

Erstmal Freunde besuchen

Die Fähre von Warnemünde nach Hohe Düne hat Platz und es dauert gerade mal 15 Minuten, um die Warnow zu überqueren. Jetzt liegt Rostock endgültig hinter uns. Der Radweg führt durch einen Campingplatz. Gefühlt ist es der hunderttausendste Campingplatz an dem wir vorbei oder hindurch fahren. Menschen mit Brötchentüten kreuzen unseren Weg.

„Wir sollten einen Ort zum Frühstücken finden,“ rufe ich Matthias zu.
„Unbedingt!“

Mir fällt meine Freundin Andrea ein. Sie hat einen Dauer-Wohnwagen, oder wie das heißt in Graal-Müritz. Ob wir sie einfach so überraschen können? Ich überlege kurz und finde, dass Freunde sowas machen können. Nein, ich finde sogar, dass Freunde sowas machen MÜSSEN.

Viel schlimmer wäre es doch, wenn wir jetzt an Graal-Müritz vorbei fahren ohne sie zu besuchen. Es kann ja auch sein, dass sie gar nicht vor Ort ist. Der Campingplatz ist leicht zu finden. Aber der Dauer-Wohnwagen von Andrea nicht. Alles sieht gleich aus. Ich war zwar schon mal hier, aber das ist ewig her und es sieht wirklich alles gleich aus. Ich rufe sie an.
„Super!“ sagt sie. „Wir frühstücken grade!“ So geht Freundschaft!

Am Tisch sitzen schon drei Erwachsene und drei Kinder. Stühle werden geholt und gerückt. Es ist Platz genug. Der Kaffee schmeckt köstlich, die Gespräche drehen sich um neue Wohnungen und Nachtfahrten. Obwohl die vorherrschende Meinung zu sein scheint, wir seien verrückt, bleiben wir dabei. Natürlich wird uns ein Platz im Zelt angeboten. Aber wir bestehen auf unserem Abenteuer.

Irgendwann verabschieden wir uns. Wir wollen am Strand ein bisschen „vorschlafen“.

Neue Strandmuschel

Wir kaufen uns eine neue Strandmuschel, ein ganzes Zelt wäre zu schwer und groß. Schließlich haben wir uns Satteltaschen dabei und die sind bereits voll.

Wir finden einen wunderbaren Platz am FKK Strand.
„Halt mal,“ ruft Matthias während der Wind mir ständig die Muschel aus der Hand reißt.
„Versuche ich ja! Geht aber nicht.“
Irgendwann steht das Ding. Wir räumen alles rein, legen uns dazu und verhindern so den Weiterflug der Muschel.
„Gute Nacht.“
Es knattert, rappelt und der Sand knirscht zwischen den Zähnen. Die Wand der Muschel drückt mir ins Gesicht. Ich schlafe nicht. Aber vielleicht erhole ich mich trotzdem ein bisschen.
„Bist du eigentlich müde?“ fragt Matthias.
Natürlich nicht! Wovon denn auch? Nach zwei Stunden geben wir auf und räumen alles zusammen. Hunger! Es gibt Pizza und Nachtisch und gaaanz viel Kaffe am Deich in Dierhagen.

Start in die Nacht

22.00 Uhr! Es dämmert und die Temperatur sinkt auf 15 Grad. Die lange Hose und eine warme Jacke müssen her. Wo habe ich die nur? Satteltaschen sind zwar eine gute Erfindung wenn sie am Rad hängen. Aber sobald ich etwas suche, ist es immer ganz unten in der zweiten Tasche. Immer!

Matthias geht zum Umziehen auf’s Klo. Ich verteile nach und nach alle Sachen auf den Stühlen um mich herum. Der Kellner kommt, zum kassieren. Das Geld habe ich zum Glück in der Tasche, die um meinen Bauch gebunden ist. Ja, ich weiß, das ist kein schöner Anblick, aber praktisch. Dann habe ich alles gefunden, angezogen und den Rest wieder verstaut.

Matthias kommt vom Klo und wir starten ins Abenteuer. Wir sind allerdings nicht allein. Mit uns starten zweihundertmillionen Mücken. Sie greifen uns an! Wir fahren schnell und dennoch sind sie überall. Die Sonne geht glutrot ins Meer. Wir entscheiden uns mit den Rädern an den Strand zu fahren, dort ist es windig und wir können die Mücken loswerden. So unsere Hoffnung.

Was für ein Naturschauspiel! Wunderschön, rot und glitzernd taucht die Sonne ins Wasser. Sehen Mücken das auch? Keine Ahnung. Auf jeden Fall sind sie uns gefolgt. Wir schlagen um uns. Verzweifelt geben wir schließlich auf und schieben die Räder durch den Sand zurück auf den Radweg. Dort springen wir auf die Sättel und radeln los. Immer wieder um uns schlagend, fluchend, zerstochen. Erst als es richtig dunkel ist, sind sie plötzlich weg. Feiglinge!

Auch die Menschen sind weg. Wir sind allein mit der Nacht und dem Wind. Wahrscheinlich fahren wir durch wunderschöne Natur. Der Darß ist etwas ganz Besonderes. Wir sehen nichts davon. Könnte das ein Grund, dass niemand nachts Radtouren macht?

Irgendwann führt uns die Strecke weg von der Küste, quer durch Felder. Also wahrscheinlich sind es Felder, weil kein Wald zu sehen ist. Den müsste man ja sehen. Oder? Was wir sehen sind die roten Augen der Windräder. Laut und bedrohlich pfeifen sie durch die Luft. Dicht über unseren Köpfen. Werden die nachts lauter? So wie alle anderen Geräusche auch? Oder sind einfach alle Sinne alarmiert, weil die Luft dunkel ist?

Behelfsbrücke und Lebensgefahr!

Zwei Uhr nachts ist so eine Uhrzeit. Auf Party’s gehen die vernünftigen Menschen spätestens jetzt nach Hause. Auch die längste Fernsehnacht ist so gegen zwei Uhr zu Ende. Die Augen wollen jetzt Feierabend machen. Stattdessen reiße ich sie weit auf. Vor uns ist eine Brücke. Sie sieht sogar im Dunkeln klapprig und marode aus.

Ein Schild ermahnt uns:
„Behelfsbrücke. Radfahrer absteigen, Lebensgefahr!“
Lebensgefahr ist nachts eindeutig beeindruckender als tagsüber. Wir steigen ab. Die Brücke besteht aus einer Straße und einem parallel dazu verlaufenden Radweg. Rechts und links ist er von Geländern gerahmt. Was könnte hier unser Leben gefährden? Wir riskieren es.

Die Fahrräder lassen sich ganz normal über die Brücke schieben, nichts wackelt oder knarzt. Doch als wir auf der anderen Seite ankommen, haben wir das Gefühl nur knapp mit dem Leben davon gekommen zu sein. Das ist ein gutes Gefühl.

Schlafen unterm Sternenhimmel

Eine halbe Stunde später ist es logischerweise halb drei und die Müdigkeit zwingt uns zu einer Pause. Wir finden zwei Bänke und legen uns auf ebenjene. Sie sind hart und doch ist es angenehm sich auszustrecken. Die Lenkertasche funktioniert ganz gut als Kopfkissen.

Über mir sehe ich den Sternenhimmel hin und wieder zwischen den Wolken aufblitzen. Ich höre Geräusche. Irgendwelche Geräusche. Ich kann sie nicht zuordnen. Sind das Stimmen? Gibt es hier eigentlich Tiere? Welche? Ich bin wach! Neben mir schnarcht Matthias. Oh Gott. Ich muss wach bleiben, falls ein Tier kommt oder ein Mensch. Es könnte ja auch ein Mensch kommen, der unsere Räder oder Taschen klaut.

Und da kommen sie auch schon. Ich höre Stimmen. Dann sehe ich Lichter. Es sind Fahrradlampen. Zwei Personen kommen näher. Sie unterhalten sich über eine Party. Ach herrje, die sind bestimmt harmlos. Aber was werden die über uns denken? Wir liegen hier nachts um drei auf einer Bank herum. Das ist nicht normal oder?

„Oh Gott, habe ich mich erschrocken! Ist alles okay?“ fragt eine weibliche Stimme dann auch folgerichtig.
„Alles gut. Wir wollen das so,“ antworte ich.
Matthias ist wieder wach. Danke an die beiden Radfahrer.

Frühstück an der Tanke

Wir fahren weiter. An schlafen ist für mich sowieso nicht zu denken. Dafür sind die Geräusche nachts viel zu spannend. Matthias ist müde. Wir hangeln uns langsam weiter, machen alle halbe Stunde eine Pause. Irgendwann kommen wir in Barth an und die Sonne geht auch wieder auf. Es ist 4 Uhr morgens. Wir setzen uns auf die Stufen am Hafen und genießen die Ruhe.

Zwei junge Männer gesellen sich zu uns. Sie sind betrunken und wundern sich über uns. Wir plaudern ein bisschen und bekommen den Tipp, zur Tanke zu fahren. Dort gibt es jetzt schon Frühstück, behaupten sie. Ich weiß gar nicht so genau, ob ich Hunger habe. Aber die Idee gefällt mir.

Wir frühstücken also an der Tanke. Die Frau am Tresen schaut uns verwundert an. Vielleicht sehen wir komisch aus?
Es gibt ganz guten Kaffee und labbrige Brötchen. Auch die beiden Jungs vom Hafen tauchen hier auf und holen sich Biernachschub. Es wird Zeit einen Platz zum Schlafen zu finden.
Wir wollen in unserer Strandmuschel am Strand schlafen. Das Problem ist nur, es gibt hier gar keinen Strand.

Hier ist der Darßer Bodden und da gibt es eher Schilf und Gras als Ostsee und Sandstrand. Dennoch finden wir ein Plätzchen am Wasser. Wir bauen die Muschel auf und versuchen erneut zu schlafen. Ein bisschen gelingt es mir. Doch die Sonne ist wieder da, es ist zu heiß in der Muschel.

Andere Menschen kommen mit ihren Kindern zum Baden. Sie sind frisch und ausgeschlafen. Spießer!

Paare am Weg

Wir haben es wirklich geschafft! Wir sind fast die ganze Nacht wach geblieben und Rad gefahren. Wir haben eine Behelfsbrücke überlebt und sind den Flügeln der Windräder entkommen. Wir haben andere Menschen verblüfft oder erschreckt oder beides.

Wir sind Abenteurer. Wir gehören zusammen. Immer noch. Aber wir brauchen für diese Nacht entweder ein Hotelzimmer oder einen Bus nach Berlin.

Zahlen Daten Fakten

Tag 8 von Rostock bis Barth

  • 102 Kilometer 
  • 10 bis 25 Grad
  • 2 Windräder
  • 2 Parkbänke
  • 1 Behelfsbrücke
  • 1 Sternenhimmel