Tag 8 und 9 Seesen bis Heilbad Heiligenstadt – Zermalmte Körper
Das Frühstück gibt es im Keller. Wir sitzen am Tisch mit Plastikdecken und aus dem Radio plärrt 80er Jahre Musik. Gab es eigentlich später keine Musik mehr, die im Mainstreamradio gespielt werden darf? Immer wieder die gleichen ollen Kamellen, überall und zu jeder Zeit. Ich bin selbst in den 80er Jahren jung gewesen und viele dieser mittlerweile inflationär verdudelten Lieder haben mir mal etwas bedeutet. Das ist schon lange vorbei. Hinter dem Käseberg, dessen Ränder sich bereits leicht nach oben wölben, finden wir die Musikanlage und drehen sie leise. Puuuhhh, so ist es besser.
Eine fünfköpfige schwedische Familie kommt hinzu. Die pubertierende Tochter geht schlurfend am Buffet vorbei und setzt sich mit düsterer Miene vor ihren leeren Teller. Sie hat recht. Es ist das schlechteste Frühstücksbuffet, das wir je gesehen haben. Kein Gemüse oder Obst bringt Leben in die plastikverpackten Margarine, Marmelade- oder Nutellaportionen. Wurst und Käse sind zu einem Haufen aufgetürmt, der Kaffee erinnert an braunes lauwarmes Wasser und als Müsli müssen Cornflakes reichen. Am liebsten würde ich mich mit demselben Gesicht wie das junge Mädchen vor den leeren Teller setzen und weinen. Da ich weiß, dass ich heute noch einige Kilometer mit dem Fahrrad fahren werde, esse ich doch ein bisschen Cornflakes und ein Brötchen.
Das Mädel ist da konsequenter und obwohl ich kein Wort schwedisch verstehe, erkenne ich die Versuche der anderen Familienmitglieder, sie aufzumuntern. Natürlich scheitern sie genauso wie alle anderen Familienmitglieder auf der Welt, die einen pubertierenden Menschen aufheitern wollen. Das hat auch was Beruhigendes.
70jähriger Radfahrer
An der Rezeption berichtet uns die Frau hinterm Tresen von einem 70jährigen, der gestern hier war und mit dem Rad ebenfalls große Strecken durch Deutschland fährt. Er fuhr ein ganz normales Rad mit 3 Gängen, erzählt sie. Schade, dass wir ihn nicht mehr getroffen haben, denn ich liebe solche Menschen. Sie sind für mich Ansporn und Vorbild, bis ins hohe Alter beweglich zu bleiben.
Hexen gibt es nicht
Der Harzradweg ist auf der Karte mit einer Hexe auf einem Besen markiert. So wie es aussieht können wir auf diesem Weg bis nach Osterode fahren. Es geht wie so oft nur noch darum, diesen auf der Karte existierenden Radweg auch im richtigen Leben zu finden. Es gibt keinen Hinweis.
Wir fragen drei ganz unterschiedliche Menschen, einen LKW Fahrer, der gerade in einem Dönerladen Getränke ausliefert, eine Frau mit Hund, die eigentlich mit ihrem Handy beschäftigt ist und einen Radfahrer, der am liebsten schnell an uns vorbei fahren möchte. Niemand weiß etwas von einem Radweg. Auch die Hinweise auf die Beschilderung mit einer Hexe oder der Name Harzradweg helfen nicht weiter.
Selbst der von uns ausgebremste Radfahrer weiß nichts von Radwegen. Er sagt, er kommt aus Kassel und will diese Woche noch nach Stuttgart. „Ich fahre nie die Radwege, die sind schlecht ausgeschildert“ sagt er, ‚ach was‘, denke ich. Wir beschließen, dass es keine Hexen gibt und folgen den Schildern für Autos.
Schön ist das nicht!
Doch noch!
Gegen Mittag fahren wir durch Schwiegershausen. Ein kleiner Ort, der im Tal liegt. Es geht mit affenartiger Geschwindigkeit bergab. Die Straße führt durch Felder und sie ist nicht befahren, deshalb bremsen wir nicht, sondern wir fliegen. Was für ein geniales Gefühl. Ich liebe die Berge! Dabei sind das ja noch gar nicht die richtigen Berge, es ist nur der Harz.
Mein Handy piept und ich halte am Ende der Talfahrt an um nachzugucken wer was von mir will. Das mache ich sonst eigentlich nie sofort. Es ist meine Freundin, die aus Salzgitter!
JUHU, sie hat doch noch die alte Nummer! Wir verabreden uns für ein Treffen in Berlin, sobald ich zurück bin. Das ist wirklich schön. Und es passt total, denn in Schwiegershausen leben ihre Eltern, auch diesen Ort hat sie schon oft erwähnt. Es ist Zufall, dass wir diese Strecke fahren, umso mehr ich freue mich über den wieder gewonnenen Kontakt.
20 Kilometer in 4 Stunden
Beschwingt und guter Dinge geht es mit dem Klassiker weiter.
Wir folgen einem Radwegschild und es verschwindet. Jetzt zum Beispiel quälen wir uns einen Berg hoch, wundern uns über den Feldweg, zu dem die Straße wird, halten an und werden stutzig. Es ist nur ein Gefühl, aber wir sind uns sicher, dass das nicht der richtige Weg sein kann. Es gab aber auch keinen Abzweig und weiterführende Schilder sind nicht zu sehen. Der Untergrund ist kaum befahrbar. Weit vom Dorf entfernt sind wir noch nicht.
Wir drehen um und fahren zurück an die Stelle, an der das Radwegschild stand. Eine Frau mit dem Rad hält an und fragt, ob sie helfen kann. Kann sie! Ihre Wegbeschreibung nach Wulften, so heißt der nächste Ort, ist gut und nachvollziehbar. Sie hatte sich schon gewundert, was wir da oben wollen. Das hatten wir ja dann auch, unser Gefühl ist mittlerweile wohl ganz gut entwickelt. Immerhin!
Nach der Mittagspause stehen wir schon wieder vor uneindeutigen Schildern, das Handy hat allerdings Netz. Es sind nur noch 20 Kilometer bis zum heutigen Tagesziel, Heilbad Heiligenstadt. Es ist kurz vor 14 Uhr, spätestens um 16 Uhr sollten wir dort sein.
Das wäre wahrscheinlich auch richtig, wenn da nicht diese Berge wären. Diese 20 Kilometer sind keine normalen 20 Kilometer, sie beinhalten knapp 600 Höhenmeter und das ist viel! Weiß ich aber erst hinterher.
Mir war immer klar, dass es in den Bergen anstrengend wird. Aber so anstrengend?! Es geht in Serpentinen an der Straße entlang, immer aufwärts. Das Gepäck wird scheinbar immer schwerer, es zieht von hinten nach unten, eine logische Folge der Schwerkraft. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum ich das hier mache? Ist das Urlaub? Soll das so sein? Keine Ahnung! Irgendetwas in mir möchte genau das erleben. Ich will diesen Berg hochfahren, ich will in Heilbad Heiligenstadt ankommen! Die Frage nach dem „warum“ ist selten sinnvoll und sie ist es auch jetzt nicht. Nach vier Stunden Quälerei immer bergauf geht es nur noch um das „wie“. Wie kommen wir in Heilbad Heiligenstadt an?
Auf diese Frage bekommen wir später die passende Antwort. Wir werfen unsere Taschen ins Hotelzimmer und gehen ohne zu duschen ins nächstgelegene Restaurant, da das Hotelrestaurant heute Ruhetag hat. Am Nebentisch hören wir dann den Satz, der unseren Zustand am allerbesten beschreibt „Der Körper ist zermalmt“ Ja genauso fühlt es sich an!
Wir brauchen einen Pausentag!
Der gestrichene Pausentag
Die Lage ist ernst. Mein kleiner Finger ist mittlerweile taub, ein unangenehmes aber gar nicht so seltenes Phänomen bei langen Fahrradstrecken. Mental habe ich das Gefühl, der Tour nicht gewachsen zu sein. Das gestern waren ja noch nicht die richtigen Berge. Wir sind erst im Eichsfeld.
Müde und zerknirscht sitzen wir am nächsten Morgen voreinander am Frühstückstisch. Es ist 7 Uhr, der frühestmögliche Zeitpunkt für das Frühstück in diesem Hotel. Noch wollen wir die nächste Etappe so schnell wie möglich hinter uns bringen.
Abends hatte ich noch einiges über taube Finger gelesen. Es ist nur der kleine Finger an der linken Hand. Scheinbar ist der N. ulnaris eingeklemmt oder zumindest erschüttert vom Radfahren. Helfen können andere Griffe und vielleicht neue Fahrradhandschuhe.
Gegen 7.05 Uhr ist die Entscheidung gefallen. Wir machen einen Pausentag, auch wenn der gestrichen ist!
Heilbad
Das ist die absolut beste Entscheidung! Der Ort ist wunderschön, es gibt einen Kurpark, durch den wir nach dem Frühstück schlendern und unser Hotel hat sogar eine Sauna. So sollten wir die zermalmten Körper wieder herstellen können. Fünfmal laufen wir wie Störche durch das Kneippbecken. Es ist kühler als die letzten Tage, das tut den geschundenen Muskeln ganz gut. Auch die andere Bewegung beim Gehen erfreut die Beine spürbar.
Mittags waschen wir unsere Wäsche im Sanatorium. Die Sauna haben wir für uns allein. Das Heilbad macht seinem Namen alle Ehre. Wir werden wieder heil.
Hände und Hintern
In der schönen Fußgängerzone gibt es auch einen netten Fahrradhändler. Dort kaufen wir neue Lenkergriffe und Fahrradhandschuhe. Jetzt sind wir gerüstet für den Rest der Tour.
Schon morgen steht der Mittelpunkt Deutschlands in Flinsberg auf dem Plan. Ja, ich weiß, es gibt ungefähr fünf Orte in Deutschland, die sich für den Mittelpunkt Deutschlands halten. Wir können nur über einen dieser Orte fahren und entscheiden uns natürlich für den Nächstliegenden.
Neue Zuversicht macht sich breit, auch wenn der Finger immer noch taub ist.
Wenn wir von unserer Reise erzählen, vermuten die meisten, dass unsere Hintern doch bestimmt wehtun. Das könnte man meinen und das war früher auch definitiv so. Bevor ich mir den Brooks Ledersattel gegönnt habe, war genau das mein Problem. Unerträglich war die Vorstellung sich nach der ersten längeren Tour jemals wieder auf einen Fahrradsattel zu setzen, sogar Schwielen und blaue Flecken hatte ich am Hintern. Mit dem Ledersattel ist das zum Glück vorbei und ich hoffe jetzt auf ähnliche Effekte durch die neuen Korkgriffe.
Paare am Wegesrand
Das Paar, dem wir in Heilbad Heiligenstadt begegnen ist kein Liebespaar sondern ein Arbeitspaar. Es sind zwei Männer, die uns in dieser kleinen Stadt ständig über den Weg laufen, auch beim Einkaufen im Supermarkt. Der ältere von ihnen hat uns schon am ersten Abend in der Innenstadt diesen passenden Spruch über zermalmte Körper beschert und dann stellen wir fest, dass sie im selben Hotel wohnen. Beim Frühstück kommen wir ins Plaudern.
Sie arbeiten als Coaches für Langzeitarbeitslose. Es geht darum, diesen Menschen neue Perspektiven aufzuzeigen und sie zu mehr Verantwortung aufzufordern. Beide berichten begeistert von dieser Aufgabe, auch wenn sie schon viel Verzweiflung gesehen haben.
Was für sympathische Männer!
Zahlen Daten Fakten
8. Tag von Seesen bis Heilbad Heiligenstadt
- 19 – 26 Grad
- 84,89 Kilometer
- Gegenwind und 660 Höhenmeter
- Höchstgeschwindigkeit 40,4 KmH
9. Tag Pause in Heilbad Heiligenstadt