Tag 5 Heiligenhafen bis Travemünde – Die Lage spitzt sich zu
Endlich scheint die Sonne! Obwohl ich auch heute wieder allein beim Frühstück sitze, bin freundlich gestimmt. Schließlich gehe ich ja auch immer zuerst ins Bad. Und so lächele ich die Frau am Nachbartisch an. Sie wirft einen grimmigen Blick zurück.
„Guten Morgen“ sage ich. Sie sagt nichts.
Und so beschließe ich zum ca. 2.000sten Mal in meinem Leben, lieber immer gute Laune zu haben, das macht einfach mehr Spaß. Natürlich weiß ich, dass das Quatsch ist, aber ich nehme mir ja auch immer wieder vor auf Zucker zu verzichten. Noch ahne ich natürlich nicht, wie meine Laune heute so gegen 20:30 Uhr sein wird, sonst wäre mir wohl schon jetzt das Schokobrötchen im Hals stecken geblieben.
Aber noch ist alles super. Es gibt leckeres Frühstück im Strandkorb und die Jacke fliegt nach 2 Sekunden in die Ecke, viel zu warm. Herrlich, jetzt kommt der angekündigte Sommer auch an der Küste an. Aber erstmal kommt Matthias und setzt sich zu mir in den Korb.
„In Heiligenhafen finden wir bestimmt eine Luftpumpe“ sagt er.
„Meinst du echt, dass wir sowas brauchen?“ frage ich.
Eigentlich sage ich das nur, weil ich keinen Bock auf Shopping habe! Ich will weiter fahren. Gestern waren es schließlich nur etwas über 50 Kilometer. Ich bin doch etwas ungeduldig.
Trotzdem fahren wir nach dem Frühstück erstmal ins Kaufhaus Stolz. Dort gibt es so ziemlich alles, was der moderne Tourist und Segler für das Leben braucht und zum Glück auch eine Miniluftpumpe. Die Notfall-Fahrradschläuche, die Matthias dabei hat wären ja auch ohne Luftpumpe so sinnvoll wie ein Tamagotchi. Falls die überhaupt noch jemand kennt?.
FKK
Die Richtung, in die es weitergeht habe ich gestern Abend noch herausgefunden. Erstmal nach Großenbrode und von dort dann immer am Wasser entlang, bis nach Travemünde. So ist jetzt erstmal der Plan. Die Ostsee hat uns wieder… na die wird sich freuen.
Der Radweg ist hier traumhaft. Er führt direkt hinterm Deich entlang. Alle paar Meter gibt es einen Weg, der durch Dünen zum Wasser führt. Rechts vom Weg ist ein Campingplatz. Ständig kreuzen Menschen unseren Weg. Sie gehen mit allem was sie tragen können rüber ans Wasser.
Als endlich ein nackter Mann einen Bollerwagen Richtung Strand zieht, halten wir an. Es ist das eindeutige Zeichen, dass wir an einem FKK Abschnitt sind. Das ist perfekt für uns, dann haben wir nämlich danach keine nasse Badekleidung dabei.
Es gibt kaum etwas Schöneres als nackt zu schwimmen oder in der Sonne zu liegen. Viel öfter sollte es möglich sein, den Wind und die Sonne direkt auf dem ganzen Körper zu spüren. Wer hatte eigentlich, die Idee an der Ostsee Fahrrad zu fahren? So ein Quatsch.
Ich gucke auch gerne nackte Menschen an. Ja, ich weiß, das gehört sich nicht. Aber ich gucke trotzdem. Es ist für mich unglaublich beruhigend, Menschen zu sehen, die einen Bauch haben, hängende Brüste und Pickel oder seltsame Tatoos. Sie sind so wundervoll echt. Ich fühle mich geborgen zwischen nackten Menschen. Ganz besonders, wenn einer von ihnen auch noch Matthias ist.
Sonnenbrand
Ob ich eingeschlafen bin? Ich gucke rüber zu Matthias. Er schnarcht ganz leise, ich stupse ihn an.
„Wäre wohl besser, wenn wir weiter fahren“ sage ich.
Ich drücke auf eine Stelle an seinem Arm. Sie bleibt weiß und wird dann sofort rot.
„Du hast schon einen Sonnenbrand“
Natürlich hat den nicht nur er. Meine Beine sehen aus, wie die von einem Krebs. MIST, haben wir etwa immer noch nichts gelernt. Klar haben wir uns heute morgen eingecremt, aber in der Sonne zu schlafen ist ja bekanntlich keine gute Idee.
Ich ärgere mich über den eigenen Leichtsinn und hole die Sonnencreme aus der Tasche. Der Wind sorgt dafür, dass sich der Sand zur Creme gesellt. Bäh! Ich beschließe nochmal ins Wasser zu springen. Matthias kommt mit. So kommen wir nie irgendwo an. Andererseits wäre es doch auch schade, die Ostsee nicht zu genießen!
Pause
Wir fahren weiter, es wird immer heißer. Hinter Dahme führt uns die App mal wieder Weg an der Straße entlang. Auf der Karte gibt es zwar einen Radweg an der Küste entlang, aber den finden wir nicht. Es ist einfacher der App zu folgen. Hier noch einmal die dringende Bitte an Komoot, auch Radwege in die Navigation aufzunehmen. Und so fahren wir durch kleine Dörfer und an Feldern vorbei, der Wind ist wie immer entgegen kommend.
Es ist heiß, der Wind und Sonne machen echt müde. Ich will schon nach 10 Kilometern eine Pause! Kaum habe ich das gedacht, taucht ein Bauernhof auf, der zum Cafè umgebaut wurde. Magic! Drinnen ist es ziemlich voll, das hatte ich allerdings nicht gedacht. Es dauert ein bisschen aber dann genießen wir mal wieder Kaffee und Kuchen zwischen Rentnern. Man kann sich daran gewöhnen.
Kurz denke ich darüber nach, dass wir uns vielleicht doch ein bisschen beeilen sollten, dann verdränge ich diesen stressigen Gedanken wieder. Ich habe zwar um 19:30 Uhr einen Termin für ein Vorgespräch, aber bis dahin werden wir bestimmt eine Unterkunft finden oder mindestens ein ruhiges Restaurant, in dem ich telefonieren kann. Denkste!
Die Suche beginnt
Jetzt endlich schalten wir von Pause und Ausruhen in den Radtour-Modus. Wir fahren durch Grömitz und Neustadt als gäbe es diese Orte nicht. Nach knapp 30 Kilometern kommen wir ins Sierksdorf an. Hier beginnt der Wahnsinn!
Es ist Hochsaison und die zeigt sich jetzt in voller Hässlichkeit. Wir teilen uns eine schmale Straße mit Autos, sehr vielen anderen Radfahrern und sogar Bussen. Links von uns ist die Strandpromenade und rechts reihen sich Restaurants, Souvenirladen, kleine Hotels und Appartments aneinander. Selbstverständlich wechseln Menschen ständig die Straßenseite und laufen uns vors Rad. Logisch!
„Pause!“ ruft Matthias.
Wir halten an einem Demeter Bioladen, mit dem ich hier wirklich nicht gerechnet habe. Es gibt alkoholfreies Bier, dazu Quiche und Salat. Lecker!
„Wir suchen eine Unterkunft für eine Nacht“ sage ich zu dem Mann hinterm Tresen. „Haben Sie eine Idee, wo wir etwas finden könnten?“
„Ich versuche mal Frau Berger zu erreichen“ antwortet er und blickt besorgt auf die Uhr.
„Sie wissen schon, dass sie jetzt für eine Nacht ohne Frühstück sicher 130,- € zahlen,“ fragt er und guckt wieder mit besorgtem Blick, diesmal auf mich.
Ich nicke unverbindlich gelassen. NEIN! das wusste ich natürlich nicht.
Aber Frau Berger hat sowieso kein Zimmer, auch keins für 130,- € und schon gar keins für nur eine Nacht. Der Bioladen-Mann und seine Frau bringen uns noch einige Telefonnummern von kleineren Hotels und Pensionen, die weiter im Inland liegen. Aber es ist kein Zimmer für uns zu finden. Die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Beiden nützt leider gar nichts.
Wir verabschieden uns und sie drücken uns die Daumen, dass wir noch was finden. In ihren Gesichtern sehe ich, dass sie nicht wirklich daran glauben. Ich werde nervös. Wir fahren weiter. Jetzt gibt es einen Radweg, der zwischen der Straße und dem Fußweg verläuft. An jedem kleinen Hotel halten wir an und fragen, aber niemand hat ein Zimmer. Wir fragen sogar am Campingplatz, obwohl wir gar kein Zelt dabei haben. Aber die haben auch nichts.
Es ist 19:30 Uhr, mein Termin für ein Vorgespräch ist jetzt!
„Halt mal an“ rufe ich Matthias zu.
Menschenmassen laufen rechts und links an uns vorbei, laute Musik dröhnt aus den Lokalen und immer noch dürfen hier auch Autos direkt ans uns vorbei rasen. Das ist kein Ort für ein Vorgespräch. Es ist übrigens auch kein Ort für Urlaub, finde ich.
Ich halte mir ein Ohr zu und an das andere halte ich das Telefon.
„Können wir unseren Termin um eine Stunde verschieben“ frage ich die potentielle Kundin.
„Kein Problem,“ sagt die sehr freundlich.
Ich bin aus einem mir selbst unbekannten Grund optimistisch, dass wir bis dahin schon was gefunden haben werden. Wie komme ich bloß darauf? Keine Ahnung.
Es geht weiter über Haffkrug, Scharbeutz und Timmerdorfer Strand. Weiter hinten sehe ich die ganze Zeit ein riesiges Hochhaus. Wenn das ein Hotel ist, dann haben die doch bestimmt ein Zimmer für uns, denke ich. Oder eine Besenkammer? Irgendwas!
Wir kommen näher und ich sehe das große Schild „Seehotel Martim“. Juhu, da sollte es doch was gehen. Ich stürme ins Foyer und frage zum ca. 30sten Mal nach einem Zimmer für eine Nacht.
„Nein leider nicht. Da kann ich gar nichts machen“ kommt die Antwort. Professionell, freundlich, unnahbar. Ich versuche erst gar nicht zu diskutieren.
20:20 Uhr, noch 10 Minuten bis zum zweiten Anlauf für das Gespräch und immer noch kein Zimmer in Sicht. Ich will aber das Gespräch auch nicht schon wieder verschieben.
„Wir fahren jetzt einfach noch ein bisschen weiter, irgendwo gibt es bestimmt einen ruhigen Ort zum Telefonieren“ sage ich.
Matthias sagt nichts mehr, aber immerhin folgt er mir.
Wir fahren weg von der Küste auf die Landstraße Richtung Travemünde. Hier ist jetzt nur noch die Straße und Felder. Der schlimme Touristenlärm ist weg. Und nach einer Kurve taucht auch schon eine Parkbank auf, hinter der ein paar Sträucher und Bäume stehen. Ich werfe das Fahrrad gegen die Bank. Hier an der Straße ist es zu laut zum telefonieren aber hinter den Bäumen könnte es gehen. Ich quetsche mich durch das Gestrüpp und stehe vor einem Stoppelfeld. Endlich Ruhe!
Ich atme tief ein und aus und hole meine innere Paartherapeutin ans Telefon.
„Passt es jetzt?“ fragt die Kundin.
„Ja, wunderbar,“ antworte ich und lass mich auf den Boden sinken. Das Stroh vom Stoppelfeld pickst mir in den Hintern, der Schweiß läuft in Strömen ebenfalls dort entlang aber ich bin jetzt ganz Ohr!
Profis können sowas.
„Warum dauert das denn so lange!“ fragt Matthias sichtlich genervt.
„Ein Vorgespräch dauert immer eine halbe Stunde!“ raunze ich zurück. „Und warum hast du nicht weiter nach einem Zimmer gesucht?“ frage ich, jetzt wieder ganz die Ehefrau.
„Kein Netz“ sagt Matthias. Okay, dafür kann er nichts.
Wir radeln weiter Richtung Travemünde. Vom Ohrwurm erwischt, dröhnt es die ganze Zeit „Ein Bett im Kornfeld“ in meinem Kopf. Wieso kenne ich überhaupt solche Lieder? Ich kann mich nicht erinnern, Schlagerfan zu sein. Offenbar kenne ich sogar mehrere Strophen „ich brauch keine weichen Daunen“ Doch, muss ich jetzt aber widersprechen!
Wir kommen in Travemünde am Hafen an. Die Fähre nach Priwall würde sogar noch fahren, aber dort sind die Chancen, jetzt etwas zu finden wahrscheinlich noch schlechter als hier. Auf dieser Seite ist eindeutig mehr los und wir könnten auch noch in die Innenstadt von Lübeck fahren. Da gibt es wenigstens keine Kornfelder.
Erstmal setzen wir uns frustriert auf eine Bank am Fähranleger und tippen wild auf unseren Handys herum.
„Ich finde nix“ sage ich und stecke das Handy zurück in die Tasche. Erst jetzt sehe ich das Hotel auf der anderen Straßenseite. Warum habe ich das übersehen? Oder haben die das gerade gebaut?
„Da gehe ich jetzt hin und frage“ sage ich.
Matthias passt auf die Fahrräder auf und googlet weiter.
„Ich hol mal den Chef“ sagt die Kellnerin auf meine Frage.
Das ist eine gute Antwort! Sie hat nicht gleich nein gesagt. Der Chef kommt aus dem Hinterzimmer.
„Bitte irgendein Zimmer, wir schlafen auch hier auf einer Bank im Restaurant“ sage ich und schaue ihn flehend an!
„Es gibt noch ein schlimmes Zimmer, aber das vermieten wir eigentlich nicht“ antwortet er. „Sind Sie allein?“
Ein schlimmes Zimmer und ob ich allein bin? Oh je, was wird denn das jetzt?
„Nein wir sind zu zweit. Mein Mann wartet draußen bei den Fahrrädern“ sage ich.
Er geht zum Telefon und spricht in einer Sprache, die ich nicht verstehe in den Hörer. Dann legt er auf und kommt zu mir.
„Das Zimmer muss ich ihnen erst zeigen“ sagt er.
Wir gehen eine Treppe hoch in den ersten Stock. Alles sieht ganz normal aus. Da steht ein Bett, ein Schrank und es gibt es eigenes Badezimmer. Sauber ist es auch. Was ist schlimm an dem Zimmer?
„Wir nehmen es auf jeden Fall“ sage ich.
„Okay“ sagt er.
Wild mit den Armen fuchtelnd renne ich über die Straße zu Matthias.
„Wir haben ein schlimmes Zimmer“ rufe ich schon von Weitem.
„Super! Und was kostet es“ fragt Matthias.
Meine Euphorie legt sich etwas, danach hatte ich jetzt nicht gefragt.
Beim Einchecken nennt uns der Chef einen moderaten Preis von 89,- € inklusive Frühstück. Erleichterung macht sich breit. Alles ist gut! Und als wir lüften wollen, entdecken wir auch das Schlimme an dem Zimmer. Das, was ich für eine Jalousie gehalten habe, ist keine Jalousie, sondern es ist eine Mauer. Ach, wenn es weiter nichts ist. Ist ja sowieso schon dunkel. Mittlerweile ist es 22 Uhr.
Weil es so heiß ist, machen wir noch einen Spaziergang durch den Hafen. Dort ist noch einiges los, denn es es ist gerade die Travemünder Woche oder sowas. Auf einer Bank sitzt ein Paar mit zwei Fahrrädern, die Satteltaschen verraten, dass sie ebenfalls länger unterwegs sind. Er tippt verzweifelt ins Handy, sie wirft ihm böse Blicke zu.
Wir haben echt riesiges Glück mit dem schlimmen Zimmer!
Paare am Weg
Später lese ich noch ein bisschen im Buch von Andreas Altmann über seine „Frauen.Geschichten“. Er beschreibt darin eine Vielzahl von sexuellen Begegnungen mit Frauen, die er in seinem Leben hatte. Es sind provozierend viele.
„Hast du schon mal was vom Coolidge Effekt gehört?“ frage ich Matthias.
Er schüttelt den Kopf.
„Kurz zusammen gefasst sagt er aus, dass Monogamie nicht natürlich ist und deshalb die Lust in langjährigen Beziehungen verloren geht.“
„Das weiß doch jeder“ sagt Matthias und streichelt mich.
Dann beschließen wir gemeinsam, sowohl den Coolidge Effekt als auch den Sonnenbrand zu ignorieren.
Zahlen Daten Fakten
Tag 5 von Heiligenhafen bis Travemünde
- 76,9 Kilometer
- 32 Grad
- 399 Höhenmeter
- 12,9 Durchschnittsgeschwindigkeit
- 1613 Kalorien
- 5:57 Stunden Fahrzeit
- 5:22 Stunden Pause
- 2 Sonnenbrände
- 1 letztes Zimmer
- 1 Mauer vorm Fenster