Tag 6 Travemünde bis Wismar – Die Luft ist raus
Wir sitzen draußen beim Frühstück am Hafen von Travemünde und beobachten die riesigen Schiffe. Heute ist schon der sechste Tag. Langsam macht sich Müdigkeit breit. Wenn ich so eine Tour vorbereite, plane ich immer nach jedem dritten Tag eine Pause ein. Dann könnten wir Wäsche waschen und auch mal etwas besichtigen.
Doch dann, während der Tour, passen die Pausen einfach nicht mehr. Die Zeit wird knapp, die Strecke ist anstrengender als gedacht und wir werden immer weiter getrieben. Also wird es auch heute keine Pause geben. Dabei knallt die Sonne schon jetzt vom Himmel. Okay, es ist ja auch bereits 9:30 Uhr! Wir sollten doch mehr zum frühen Vogel werden, aber wer mag schon Würmer?
Der Sonnenbrand macht seinem Namen alle Ehre und brennt. Kurze Hosen kommen definitiv nicht in Frage. Die einzigen langen Hosen, die ich dabei habe, sind allerdings schwarz, das geht auch nicht. Ich bräuchte so eine bunte Flatterhose, denke ich.
Und jetzt schwöre ich bei allem was mir heilig ist, es ist genauso gewesen, wie ich es hier schreibe!
„Guck mal“ sagt Matthias und zeigt hinter mich.
Ich drehe mich um und sehe eine Verkäuferin, die gerade den Laden nebenan öffnet. Sie rollt Ständer mit Kleidung auf den Platz vor dem Laden. Und genau, es hängen bunte Flatterhosen in allen Größen an einem der Ständer.
Ob es einen Schutzengel oder sowas gibt, der sich um Flatterhosen kümmert? Muss ja wohl so sein.
Unterkunftsvorsorge
Bunt gekleidet und vor der Sonne maximal geschützt kann es nun losgehen. Alles andere wäre auch Verrat am eigenen Körper. Wir verabschieden uns herzlich vom Hotelpersonal, schließlich haben sie uns eine Nacht auf der Parkbank erspart. Allerdings bleibt ein komisches Gefühl, dass so eine Nacht doch noch kommen könnte.
Für die nächsten beiden Nächte sind wir aber davor gefeit. Heute haben wir das teuerste Zimmer der Welt in Gägelow bei Wismar gebucht. Es kostet 160,- € OHNE Frühstück! Das wollen wir uns wirklich nicht immer leisten, zumal wir ja nur über Nacht im Hotel sein werden. Morgen sind wir dann in Rostock in einem Hotel für 80,- € MIT Frühstück, also noch nicht mal halb so teuer. Aber dann kommt ja erst das Wochenende. Na, wir werden sehen.
Platten
Heute haben wir knapp 50 Kilometer vor uns, das sollte doch locker zu schaffen sein. Mit der Fähre geht es rüber nach Priwall. So sparen wir uns schon wieder einen Ausflug in eine größere Stadt. Lübeck kennen wir schon und auch dort wollen in Zukunft nicht wohnen. Also geht es weiter in ein anderes Bundesland. Auf Wiedersehen Schleswig Holstein und Hallo MÄCPOMM! Klingt nach Fastfood, ist es aber nicht.
Denn statt Touristenrummel erwartet uns jetzt die absolute Ruhe. Wir sind allein mit der Natur und unseren Fahrräder. Selten kommt uns jemand entgegen, denn hier ist nichts außer Steilküste, Wiesen und Felder. Genial!
„Stopp!“ ruft Matthias plötzlich hinter mir. „Mein Reifen ist platt!“
Wahrscheinlich liegt es daran, dass wir seit gestern eine Luftpumpe dabei haben. Die will benutzt werden. Ein Tisch mit zwei Bänken steht zufällig gerade in der Gegend herum. Einen besseren Ort hätte man sich für einen Platten selbst in Bullerbü nicht ausdenken können.
Und so gestaltet sich das, was normalerweise für jede Radtour der Horror ist, ganz entspannt. Matthias hat gut vorgesorgt und einen Schlauch zu wechseln ist für ihn eine der leichteren Übungen. Ich lege die Füße hoch und beobachte ihn dabei. Er flucht noch nicht mal, das glaubt mir bestimmt keiner.
Wir sind auch platt!
Kurz vor Boltenhagen klettern wir runter ans Wasser. Es gibt nur einen ganz kleinen Sandstrand, daneben sind überall Felsen. Es ist voll, schließlich ist hier auch Hochsaison. Wir kraxeln nach vorne ans Meer und genießen die Aussicht.
Ein kleiner Junge bewegt sich unglaublich geschickt über die Steine. Seine Füße können etwas, das meine schon längst vergessen haben. Er klammert sich mit ihnen seitlich fest und bewegt sich fast senkrecht nach oben. Beeindruckend, was so ein menschlicher Köper alles kann.
Meiner kann gerade gar nichts mehr. Hatte ich schon erwähnt, dass der Wind die ganze Zeit von vorne kommt? Falls nicht, wollte ich einfach nicht langweilen. Es ist wirklich jeden Tag das Gleiche! Schade, dass wir nicht für immer auf dem Felsen sitzen bleiben können.
Weiter geht es nach Boltenhagen. Touristenströme und der übliche Rummel sind wieder da. Matthias kauft einen neuen Ersatzschlauch und zwei neue Reifen für sein Fahrrad. Unplattbar sollen die sein, nicht so wie wir! Irgendwie schafft er es dann auch, sie auf dem Gepäckträger zu befestigen.
Wir gönnen uns noch einmal Kaffee und Kuchen mit Rentnern und jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig als weiter zu fahren. Es sind nur noch knapp 20 Kilometer bis zum Hotel. Halt, nur noch ist falsch! Es sind noch fucking 20 (!) Kilometer bis zum Hotel! Der Wind kommt von vorne und wir haben etwas über 30 Grad.
Schluss mit lustig!
Der Körper signalisiert viel zu früh, dass er nicht mehr kannst. Da sind immer noch genug Reserven, um vor einem Mammut wegzulaufen. Das habe ich mal in einem Buch gelesen, als ich für den Halbmarathon trainiert habe. Genau diese Reserven brauche ich jetzt!
Auch wenn weit und breit kein Mammut in Sicht ist, muss ich darauf bestehen, dass mein Körper diese Reserven anzapft! Zu den oben erwähnten Voraussetzungen gesellen sich jetzt nämlich noch richtig fiese Hügel hinzu. Kaum ist man oben und denkt, jetzt wird es besser, entfaltet sich der nächste Hügel. Es gibt nur eine Richtung und zwar immer die mit Gegenwind und bergauf.
Zusätzlich grinst uns auf jedem zweiten Plakat der Ostseekaspar entgegen.
Das ist kein schöner Anblick!
Plötzlich biegt Matthias von der Straße ab und fährt in einen kleinen Weg. Ich folge ihm und sehe wie das Fahrrad, die Handschuhe und der Helm ins Gebüsch fliegen.
„Ich hab keinen Bock mehr“ flucht er.
„Noch 5 Kilometer dann sind wir in einem teuren Wellnesshotel mit Schwimmbad“ sage ich.
Es nützt ja schließlich nichts, wenn wir nicht hier auf den Ostseekaspar warten wollen, müssen wir weiter fahren.
Blödes Wellnesshotel
Wir schaffen es und kommen tatsächlich an. Mitten im Industriegebiet liegt das teure Wellnesshotel. Menschengruppen werden in großen Bussen geliefert. Wir warten in der Lobby bis wir dran sind.
„Sauna und Schwimmbad sind im ersten Stock und die Fahrräder können sie hinten in den Schuppen bringen.“
Das machen wir dann auch. Das Zimmer ist klimatisiert und es gibt eine Flasche Wasser, sowie einen Wasserkocher, Kaffee und Tee. Immerhin. Dreimal an diesem Abend werde ich das Schwimmbad aufsuchen. Immer ist es ein Kinderspielplatz. Das freut mich für die Kinder und ärgert mich für mich.
Matthias will noch die neuen Reifen montieren. Das macht ja auch Sinn. Aber ich werde nörgelig, weil ich nicht ins Schwimmbad kann. Okay, ich könnte schon aber ich will nicht spielen. Willkommen schlechte Laune! Wir sollten einfach alles abbrechen, denke ich. Das ist viel zu anstrengend und teuer.
Aber wir haben ja schon das Zimmer in Rostock gebucht, die Stornierung ist nicht möglich, zumindest nicht kostenfrei. Genau deshalb buche ich normalerweise nicht vor. Was zum Geier hat uns geritten, in der Hochsaison, wenn ALLE Bundesländer (bis auf Bayern natürlich) Urlaub haben, an die Ostsee zu fahren?
Paare am Weg
Oh, ich kann mich sehr gut in so eine schlechte Laune hineinsteigern. Matthias ist klug genug, mir aus dem Weg zu gehen und kümmert sich um die Reifen.
Irgendwann kommt er dann doch zu mir und fragt, ob ich auch so schlechte Laune habe, wenn ich mit meinen Mädels unterwegs bin.
„Nein, die ist natürlich exklusiv für dich“ sage ich.
Wir grinsen und dann beschließen wir gemeinsam, eine echte Freveltat zu begehen. Ein Blick auf die morgige Strecke nach Rostock hat gereicht. Da lauern wieder ziemlich viele Hügel auf uns und das Wetter soll noch heißer werden. Da ist die Entscheidung ganz leicht gefallen:
Wir buchen den FlixBus von Wismar nach Rostock! JUHU! Wir freuen uns, als hätten wir jemandem einen sehr gelungenen Streich gespielt. Dabei hat uns doch niemand verboten, mit dem Bus zu fahren.
Zahlen Daten Fakten
Tag 6 von Travemünde bis Wismar
- 48,7 Kilometer
- 29 Grad
- 295 Höhenmeter
- 12,9 Durchschnittsgeschwindigkeit
- 969 Kalorien
- 3:35 Stunden Fahrzeit
- 2:31 Stunden Pause
- 1 Platten
- 1 Krise