Tag 2 Husum bis Glückstadt -Der Höllenritt
Natürlich ist das Wetter wichtig auf so einer Reise. Schließlich werden wir täglich viele Stunden draußen verbringen. Wir sitzen am ersten Abend im Garten unserer Pension, trinken eine halbe Flasche Rotwein auf den gelungenen Start und checken das Wetter für den nächsten Tag.
Perfekte 22 bis 24 Grad werden vorhergesagt! Wir prosten uns zu und freuen uns auf das was kommt.
Gute Nacht Husum!
Die Pensionswirtin ist bestimmt gebürtige Dänin, urteilen wir nach ihrem Akzent. Ihre Hunde sind munter und begrüßen uns zum Frühstück. Schlafen durften wir im ehemaligen Kinderzimmer.
Wer kennt sie nicht, die Pensionen in Niedersachsen, Thüringen, Bayern und jedem anderen deutschen Bundesland, die einmal Kinder- und Jugendzimmer waren?
Fast immer sind es alleinstehende, ältere Frauen, die sich auf diese Weise ein bisschen dazu verdienen. Sie erzählen manchmal wehmütig oder stolz von früher.
Aber auch wenn sie lieber schweigen, sind es die Bilder an den Wänden und die Bücher in den Regalen, die ihre Geschichten erzählen.
Wir starten etwas später, wegen des Rotweins, aber zielstrebig in Richtung Glückstadt. Über 100 Kilometer wollen heute gefahren werden. Warum auch nicht? Wir sind sicher, dass wir froh und munter ankommen werden, so war es gestern schließlich auch. Los geht es von Husum bis Glückstadt.
Der Radweg führt zunächst durch die Felder und dann nur noch am Deich entlang. Dahinter ist wahrscheinlich die Nordsee. Wir sehen sie nicht, der Weg verläuft unten. Nur die Schafe blöcken uns an und pflastern unseren Weg mit zahlreichen Exkrementen.
Es gibt unzählige Gatter, wegen der Schafe. Für uns bedeutet jedes Gatter, dass wir absteigen müssen, um es zu öffnen. Dann quälen wir uns mit den Rädern und den Packtaschen durch die Öffnung und lassen das Gatter hinter uns wieder zuknallen. Dabei knallt nicht nur das Gatter, sondern regelmäßig die Pedale vor das Schienbein.
Wir lieben es.
Die große Wetter-App-Lüge
24 Grad sind ziemlich heiß, denke ich nach dem siebenundzwanzigsten Gatter. Es ist der zweite Tag und bereits jetzt tauchen erste Zweifel an der Machbarkeit des Projekts auf.
Schon um 14:00 Uhr breitet sich eine unglaubliche Erschöpfung in mir aus. Wahrscheinlich fehlt nur ein bisschen Energie. Die Mittagspause in Heide ist mehr als nötig.
Entschlossen wird der Burger mit Pommes verdrückt. Danach sollte es definitiv besser gehen. Schließlich ist das nicht die erste längere Radtour, die ich mache und es gibt keinerlei Steigungen. Bis jetzt sind wir gerade mal 40 Kilometer gefahren.
Der Wind hält uns wacker! Er wird zum Föhn, im technischen Sinne des Wortes. Frontal trocknet er die Haare in Windeseile mitsamt dem in Wasser getränkten Halstuch auf dem Kopf.
Deicharbeiten zwingen uns auf eine Umleitung. Die Strecke führt an einer viel befahrenen Straße entlang. Immerhing gibt einen Radweg, allerdings mit dem freundlichen Hinweis, dass dieser Schäden enthält.
Stimmt! Wir rumpeln weiter über den aufgeplatzten Asphalt. Das Umleitungsschild verschwindet irgendwann auf magische Weise und wir finden den Deichweg nicht wieder. Wir müssen an der Straße bleiben. Wind von vorne und sehr viel Sonne von oben begleiten uns immer noch.
Alles in allem ist es schier unerträglich!
Unspektakulär, unerwartet und lebensrettend taucht die Bäckerei Kühl am Wegesrand auf. Es gibt einen kühlen Bereich im Schatten und eine Bäckerei mit Kaffee. Passt!
Wir sind in Meldorf und seit dem Burger gerade mal 16 Kilometer gefahren. Trotzdem ist es Zeit für Kaffee und Kuchen. Irgendwie muss doch Energie in den Körper gelangen. Aufgeben ist keine Option!
Die Verkäuferin begrüßt uns entsetzt:
„Wie können Sie bei 38 Grad Fahrrad fahren?“
38 Grad?! Aber die Wetter App hat doch gestern bis maximal 24 Grad vorher gesagt! Worauf beziehen die sich eigentlich? Ist das überhaupt eine Wissenschaft, diese Vorhersagerei oder verlassen die sich immer noch auf den Frosch mit der Leiter im Glas?
Bei so einem Wetter kann man doch nicht Fahrrad fahren! Wir kommen uns vor wie der Hummel, die auch nicht weiß, dass sie nicht fliegen kann und es trotzdem tut.
Die Wind-Lüge
Mittlerweile ist es schon 16 Uhr und es wird bestimmt bald wieder kühler. Weiter geht es in Richtung Brunsbüttel. Dort wartet die Elbe auf uns und wir werden dann entscheiden, ob wir heute noch weiter fahren.
Ganz sicher sind wir uns, dass das nur geht, wenn der Wind dann von hinten kommt. Das wird bestimmt so sein, denn ALLE Reiseführer empfehlen, den Elberadweg im Norden zu starten, damit der Wind von hinten kommt. Wir erreichen Brunsbüttel.
Der Wind kommt von vorne!
BÄH! Allerdings befinden wir uns mitten im Industriegebiet, in der Nähe eines Atomkraftwerks. Eine irgendwie geartete Unterkunft ist nicht in Sicht. Wir sind völlig erschöpft und sollten eigentlich nicht mehr weiter fahren, tun es aber trotzdem. Nützt ja nix.
Mindestens 10 Kilometer führt der einzige Weg schnurgerade an der Straße entlang. LKW’s brettern an uns vorbei. Etwas Gestrüpp wächst am Wegesrand, die Elbe ist nicht zu sehen, die Industrieanlagen und Hochsicherheitszäune hingegen schon.
Dazwischen sausen wir dahin wie die Hummeln.
Paare am Weg
Am Ende schaffen wir es doch. Wir kommen in Glückstadt an! Das konnten wir nur schaffen, weil wir WIRKLICH dachten, wir fahren bei 24 Grad! Hätten wir schon am Vortag gewusst, wie heiß es wird, hätten wir die Strecke verkürzt oder wären viel früher gestartet… na ja, hätten!
Erstaunlich auch, dass wir das geglaubt haben, obwohl unsere Körper deutlich andere Signale sendeten! Vielleicht, weil so ein Körper keine Digitalanzeige besitzt und auch sonst gerne mal unklare Signale sendet?
Wie zum Beispiel am nächsten Morgen beim Frühstück. Da will der Körper Obst haben, obwohl er doch von seinem eigenen Kopf her wissen müsste, dass es in einem so kleinen Hotel kein Obst geben wird. Ich frage trotzdem mal die junge Frau, die gerade Wurst und Käse nachfüllt und komme mit ihr ins Gespräch.
Marzena ist aus der Ukraine, ihre Tochter hat heute Geburtstag. Sie wird 8 Jahre alt und wird ihn wie alle anderen Geburtstage ohne ihre Eltern feiern. Der Vater der Kleinen und Ehemann von Marzena arbeitet eigentlich in Stuttgart. Letzte Woche hat er sich verletzt. Genau weiß Marzena nicht was passiert ist. Für mich klingt das, was sie erzählt, nach einem Stromschlag. Jetzt ist er hier in Glückstadt bei Marzena. Mit leicht nach oben verdrehten Augen erzählt sie, wie genervt sie von ihm ist, weil er den ganzen Tag jammert.
Obst gibt es nicht, aber sie wünscht uns eine gute Weiterfahrt.
Zahlen Daten Fakten
2. Tag von Husum nach Glückstadt
- 114,6 Kilometer
- 38 Grad und Gegenwind
- 170 Höhenmeter
- Höchstgeschwindigkeit 23,7 Kmh
- 2 Hummeln
- 0 Obst
Unglaublich tough! Euer Durchhaltevermögen ist wirklich sowas von bewundernswert! Ich drücke euch die Daumen für den Rest der Tour dé Force.
Beim nächsten Mal bist du dabei!!